18

 

Renata stand am Waschbecken im Badezimmer und spuckte den letzten Rest Zahnpasta in den Abfluss, dann spülte sie   mit mehreren Handvoll kühlem Wasser nach. Sie war viel später aufgestanden, als sie vorgehabt hatte. Nikolai sagte, dass sie ausgesehen hätte, als brauchte sie die Erholung, also hatte er sie bis fast zehn Uhr morgens schlafen lassen. Sie hätte noch ganze zehn Tage weiterschlafen können und wäre dann wahrscheinlich immer noch müde gewesen.

Sie fühlte sich schrecklich. Alles tat ihr weh. Die Glieder schwach. Wackelig auf den Beinen. Der innere Thermostat ihres Körpers konnte sich offenbar nicht zwischen eiskalt und überhitzt entscheiden, und immer wieder durchfuhren sie abwechselnd Schüttelfrost und Hitzewellen, die ihr den Schweiß auf Stirn und Nacken trieben.

Die rechte Hand auf dem Waschbeckenrand abgestützt, hielt sie die andere unter den laufenden Wasserhahn. Sie wollte ihre kalten, nassen Finger auf den glühenden Ofen drücken, der ihr Genick verbrannte. Eine leichte Bewegung ihres linken Arms, und sie zischte vor Schmerz.

Ihre Schulter fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Sie verzog das Gesicht, als sie vorsichtig den Kragen des riesigen Oxfordhemdes aufknöpfte, das sie sich von Jack geborgt hatte.

Langsam ließ sie sich den linken Ärmel von der   Schulter gleiten, sodass sie den Verband abnehmen und ihre Wunde inspizieren konnte. Es brannte, als sie das Pflaster von ihrer empfindlichen, gereizten Haut abzog. Geronnenes Blut und Desinfektionsmittel verkrusteten den dicken Gazestreifen, doch die Wunde darunter war immer noch geschwollen und nässte.

Sie brauchte keinen Arzt, um zu erkennen, dass es nicht gut aussah. Blut und dicke, gelbe Wundflüssigkeit rannen aus dem entzündeten roten Kreis rund um die offene Eintrittswunde. Überhaupt nicht gut. Und sie brauchte auch kein Fieberthermometer, um die Bestätigung zu bekommen, dass sie durch die Entzündung wohl schon ziemlich hohes Fieber hatte.

„Scheiße", flüsterte sie dem hageren, fahlen Gesicht im Spiegel zu. „Ich hab keine Zeit für so was, verdammt." Sie schreckte zusammen, als abrupt an die Badezimmertür geklopft wurde.

„Hey." Nikolai klopfte wieder, zweimal, schnell. „Alles okay da drin?"

„Ja, klar, alles gut." Ihre Kehle war rau wie Schmirgelpapier und brachte wenig mehr als ein hartes Krächzen zustande. „Ich putz mir nur die Zähne."

„Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?"

„Alles bestens." Renata rollte den gebrauchten Verband zusammen und warf ihn in den Mülleimer neben dem Waschbecken. „Paar Minuten, und ich bin fertig."

Die Stille, die ihr antwortete, vermittelte ihr nicht den Eindruck, als würde er weggehen. Sie drehte das Wasser weiter auf und wartete reglos, ihre Augen auf die geschlossene Badezimmertür gerichtet.

„Renata ... deine Wunde", sagte Nikolai durch das Holz der Tür. Er klang ernst. „Ist sie noch nicht verheilt? Sie hätte inzwischen aufhören müssen zu bluten ..."

Obwohl sie nicht gewollt hatte, dass er wusste, was los war, hatte es jetzt keinen Sinn, es abzustreiten. Alle Angehörigen seiner Spezies verfügten über eine unglaublich scharfe Sinneswahrnehmung, besonders wenn es um frisches Blut ging.

Renata räusperte sich. „Ist nichts weiter. Ich muss sie nur säubern und frisch verbinden."

„Ich komm rein", sagte er und drehte den Türknopf. Er hielt stand, denn sie hatte von innen verriegelt. „Renata.

Lass mich rein."

„Ich habe gesagt, mir geht's gut. Ich brauche nur noch ein paar Minu..."

Sie hatte keine Chance, den Satz zu beenden. Er musste wohl seine mentalen Stammeskräfte eingesetzt haben, um das Schloss zu entriegeln. Nikolai öffnete die Tür weit.

Renata hätte ihn anschreien und beschimpfen können, dass er einfach so hereinplatzte, als gehörte ihm hier alles, aber sie war zu beschäftigt damit, wieder in den langen, weiten Hemdärmel zu fahren und sich zu bedecken. Dass er ihre entzündete Schusswunde sah, kümmerte sie weniger; es waren die anderen Wunden, die sie vor ihm verbergen wollte.

Die bleibenden Narben, die in die Haut ihres Rückens eingebrannt waren.

Sie schaffte es, den weichen Baumwollstoff um sich zu raffen, aber von all dem Ziehen und Zerren schmerzte ihre Schulter höllisch, und ihr Magen stülpte sich um, als sie vor Schmerz eine heftige Welle der Übelkeit überrollte.

Keuchend und von kaltem Schweiß bedeckt, ließ sie sich auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen und versuchte, so zu tun, als wäre sie nicht kurz davor, sich auf die winzigen schwarz-weißen Bodenfliesen unter ihren Füßen zu erbrechen.

„Um Himmels willen." Nikolai, mit nacktem Oberkörper, seine geliehene Trainingshose tief auf seinen schmalen Hüften, warf nur einen Blick auf sie und ging vor ihr in die Hocke. „Dir geht's alles andere als gut."

Sie zuckte zurück, als er die Hand nach ihrem offenen Hemdkragen ausstreckte. „Nicht."

„Ich will mir nur deine Wunde ansehen. Da stimmt doch was nicht. Sie müsste längst verheilt sein." Er zog den Stoff von ihrer Schulter und machte ein finsteres Gesicht.

„Scheiße. Das sieht ja gar nicht gut aus. Wie steht es mit der Austrittswunde?"

Er stand auf und beugte sich über sie, seine Finger waren vorsichtig, als er ihr Hemd weiter zur Seite schob. Obwohl sie innerlich vor Hitze brannte, konnte sie die Hitze seines Körpers spüren, als er in dem kleinen Raum so nahe über ihr stand. „Ach, verdammt ... die Seite ist noch schlimmer als vorn Ziehen wir dir mal dieses Hemd aus, damit ich sehen kann, was genau da los ist."

Renata erstarrte, ihr ganzer Körper verkrampfte sich schlagartig. „Nein. Ich kann nicht."

„Klar kannst du. Ich helfe dir." Als sie sich nicht rührte, nur weiter dasaß und das übergroße Hemd mit eiserner Faust vorne zusammenhielt, grinste Nikolai. „Wenn du denkst, du müsstest auf zimperlich machen, das brauchst du nicht. Himmel, du hast mich doch auch schon nackt gesehen, da ist es doch nur fair, oder?"

Sie lachte nicht. Sie konnte nicht. Es war schwer, seinen Blick auszuhalten, schwer, der wachsenden Besorgnis zu glauben, die seine frostigen blauen Augen zu verdunkeln begann, während er auf ihre Antwort wartete. Sie wollte dort keinen Abscheu sehen, oder, noch schlimmer, Mitleid.

„Kannst du ... nicht einfach weggehen? Bitte? Ich will mich alleine drum kümmern."

„Deine Wunde ist entzündet. Du hast ja schon Fieber."

„Ich weiß."

Nikolais Gesicht wurde ernst, erfüllt von einer Gefühlsregung, die sie nicht einordnen konnte. „Wann hast du zum letzten Mal Nahrung zu dir genommen?"

Sie zuckte die Schultern. „Jack hat mir gestern Abend was zum Essen gebracht, aber ich hatte keinen Hunger."

„Ich rede nicht von Essen, Renata. Was ist mit Blut? Wann hast du dich zum letzten Mal von Jakut genährt?"

„Du meinst, sein Blut getrunken?" Sie konnte ihren Abscheu nicht verbergen. „Nie. Warum fragst du? Wie kommst du bloß auf so was?"

„Er hat von dir getrunken. Ich habe ihn doch gesehen, in seinem Zimmer im Jagdhaus, wie er aus deiner Vene getrunken hat. Ich habe angenommen, dass es ein gegenseitiges Arrangement war."

Renata hasste es, daran erinnert zu werden, dass Nikolai Zeuge ihrer Entwürdigung geworden war. „Sergej hat mich für Blut benutzt, wann immer ihm danach war. Oder immer dann, wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte."

„Aber dir hat er nie sein Blut gegeben?" Renata schüttelte den Kopf.

„Kein Wunder, dass es nicht schneller heilt", murmelte Nikolai. Er schüttelte leicht den Kopf. „Als ich ihn gesehen habe, wie er von dir getrunken hat ... ich habe gedacht, du wärst seine Gefährtin. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr eine Blutsverbindung miteinander habt. Ich habe gedacht, dass er dir etwas bedeutet."

„Du hast gedacht, ich liebe ihn", sagte Renata, als sie erkannte, worauf er hinauswollte. „So war's nicht. Nicht mal annähernd."

Sie stieß einen scharfen Atemzug aus, der ihr in der Kehle kratzte. Nikolai drängte nicht auf eine Antwort, und vielleicht war genau das der Grund, warum sie ihm verständlich machen wollte, dass ihre Gefühle für den Vampir, dem sie gedient hatte, alles andere waren als Zuneigung. „Vor zwei Jahren hat Sergej Jakut mich in der Innenstadt von der Straße entführt und mich zu seinem Jagdhaus gebracht, zusammen mit ein paar anderen Jugendlichen, die er in dieser Nacht aufgesammelt hatte.

Wir wussten nicht, wer er war oder wohin er uns brachte oder warum. Wir wussten gar nichts, weil er uns alle in eine Art Trance versetzt hatte, die erst vorüberging, als wir zusammen in einem riesigen, dunklen Käfig eingesperrt waren."

„Dem im Schuppen auf seinem Grundstück", sagte Nikolai grimmig. „Du lieber Gott. Er hat euch als lebendes Wild für seinen Blutclub geholt?"

„Ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns wusste, dass Vampire wirklich existieren, bis Jakut, Lex und ein paar andere kamen, um den Käfig zu öffnen. Sie haben uns die Wälder gezeigt und gesagt, wir sollen rennen." Sie schluckte, um die Bitterkeit niederzukämpfen, die in ihrer Kehle aufstieg. „Das Abschlachten begann, sobald die Ersten von uns auf den Wald zurannten."

Vor ihrem inneren Auge durchlebte Renata das Grauen in all seinen entsetzlichen Einzelheiten aufs Neue. Immer noch konnte sie die Schreie der fliehenden Opfer hören und das schaurige Heulen der Raubtiere, die sie in wilder Gier jagten.

Immer noch konnte sie den sommerlichen Duft von würzigen Kiefern und lehmigem Moos riechen, Naturgerüche, die nur zu bald durch die von Blut und Tod erstickt wurden. Immer noch konnte sie diese weite Dunkelheit vor sich sehen, die sie auf dem unvertrauten Gelände umgab, unsichtbare Äste, die ihr gegen die Wangen schlugen und an ihren Kleidern zerrten, als sie versuchte, sich ihren Weg durch die Dunkelheit zu bahnen.

 „Keiner von euch hatte eine Chance", murmelte Nikolai.

„Sie haben euch befohlen zu rennen, weil sie mit euch spielen wollten. Um sich selbst die Illusion zu geben, dass Blutclubs etwas mit Sport zu tun haben."

„Das weiß ich inzwischen." Renata erinnerte sich nur allzu deutlich daran, wie vergeblich das Rennen gewesen war. Das Entsetzen war in Gestalt von glühenden, bernsteinfarbenen Augen und gebleckten, blutverschmierten Fangzähnen aus der schwarzen Nacht gekommen, schlimmer als alles, was sie in ihren schlimmsten Albträumen gesehen hatte. „Einer von ihnen hat mich eingefangen. Er kam aus dem Nichts und hat angefangen, mich einzukreisen, machte sich zum Angriff bereit. Ich habe noch nie größere Angst gehabt. Ich hatte Angst, war wütend, und irgendwas in mir ist einfach ..

gerissen. Ich habe eine Kraft gespürt, die mich durchströmte, etwas Stärkeres als das Adrenalin, das durch meinen Körper geschossen war."

Nikolai nickte. „Du hast nichts von deiner Gabe gewusst."

„Bis zu dieser Nacht hatte ich von vielen Dingen keine Ahnung. Die Welt stand Kopf. Ich wollte einfach nur überleben - das Einzige, was ich wirklich konnte. Als ich also diese Energie spürte, die da durch mich floss, sagte mir irgendein Instinkt, dass ich sie auf meinen Angreifer richten musste. Ich habe sie kraft meines Willens nach außen gelenkt, und der Vampir taumelte nach hinten, als hätte ich ihm einen körperlichen Schlag versetzt. Ich habe mehr auf ihn abgefeuert und noch mehr, bis er schreiend am Boden lag und Blut aus seinen Augen lief und sein ganzer Körper vor Schmerzen zuckte." Renata hielt inne und fragte sich, ob der Stammeskrieger, der sie schweigend anstarrte, sie wohl dafür verurteilte, dass ihr jedes Bedauern über diese Tat abging. Sie würde keine Abbitte leisten oder sich entschuldigen. „Ich wollte, dass er leidet, Nikolai. Ich wollte ihn töten, und ich habe es getan."

 „Was ist dir anderes übrig geblieben?", sagte er, streckte die Hand aus und fuhr ihr sehr sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. „Was ist mit Jakut? Wo war er während der ganzen Sache?"

„Nicht weit hinter mir. Ich war wieder losgerannt, da schnitt er mir den Weg ab. Ich habe versucht, auch ihn zu beschießen, aber es hat ihm nichts ausgemacht. Ich habe ihm alles verpasst, was ich hatte, bis ich vor Erschöpfung fast zusammengebrochen bin, aber es war nicht genug. Er war zu stark."

„Weil er Gen Eins war."

Renata neigte zustimmend den Kopf. „Er hat es mir später erklärt, nachdem der erste Anfall des Rückstoßes meiner Gabe mich für drei ganze Tage ausgeknockt hatte. Als ich aufgewacht bin, fand ich mich als persönlicher Bodyguard eines Vampirs wieder, ob es mir nun passte oder nicht."

„Hast du nie versucht zu fliehen?"

„Am Anfang schon. Und nicht nur einmal. Er hat nie lange gebraucht, um mich aufzuspüren." Sie tippte mit ihrem Zeigefinger gegen die Vene an der Seite ihres Halses. „Schwer, weit zu kommen, wenn dein eigenes Blut für deinen Verfolger besser funktioniert als jedes Navigationssystem. Er hat mein Blut als Versicherung für meine Loyalität benutzt. Es war eine Fessel, die ich nicht abstreifen konnte. Ich wusste, ich würde mich nie davon befreien können."

„Jetzt bist du frei, Renata."

„Ja, das bin ich wohl", sagte sie, und ihre Antwort klang so hohl, wie sie sich anfühlte. „Aber was ist mit Mira?"

Nikolai starrte sie einen langen Augenblick an und sagte nichts. Sie wollte den Zweifel in seinen Augen nicht sehen, genauso wenig, wie sie leere Versprechungen wollte, dass sie etwas für Mira tun konnten, jetzt, da sie in Feindeshand war. Schon gar nicht jetzt, da sie durch ihre Verletzung geschwächt war.

Nikolai wandte sich zu der weißen Badewanne mit den Klauenfüßen und drehte die beiden Wasserhähne auf. Als Wasser in die Wanne lief, sah er sich wieder zu ihr um. „Ein kühles Bad sollte dein Fieber senken. Komm, ich helfe dir, dich sauber zu machen."

„Nein, das kann ich selbst ..."

Er hob keinen Widerspruch duldend eine Augenbraue.

„Das Hemd, Renata, lass mich dir da raushelfen, damit ich mir diese Wunde besser ansehen kann."

Offensichtlich würde er nicht aufgeben. Renata saß vollkommen reglos da, als Nikolai die letzten Knöpfe des zeltartigen Oxfordhemdes aufknöpfte und es ihr sanft abstreifte. Der Baumwollstoff fiel in weichen Falten auf ihren Schoß und um ihre Hüften. Obwohl sie einen Büstenhalter trug, hob sie die Hände, um ihre Brüste vor seinen Augen abzuschirmen - diese Sittsamkeit hatte man ihr seit ihren frühen Jahren im Waisenhaus der Kirche eingebläut.

Aber er sah sie nicht mit sexuellem Interesse an. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf ihre Schulter gerichtet. Sanft und vorsichtig tasteten seine Finger die Wunde ab und dann über ihre Schulter nach hinten, wo die Kugel aus ihrem Fleisch ausgetreten war. „Tut es weh, wenn ich hier drücke?"

Obwohl seine Berührung kaum mehr als ein leichtes Streifen über die Haut war, schoss ihr der Schmerz durch den Körper. Sie zuckte zusammen, schnappte nach Luft.

„Tut mir leid. Um die Austrittswunde ist alles rot und geschwollen", sagte er, und seine tiefe Stimme vibrierte in ihren Knochen, während seine Finger sanft auf ihr weiterwanderten. „Sieht nicht gerade gut aus, aber ich glaube, wenn wir die Wunde ausspülen und ..."

Als seine Stimme verstummte, wusste sie, was er sah.

Nicht die entzündete Schusswunde, sondern zwei andere Schönheitsfehler auf der ansonsten glatten Haut ihres Rückens. Sie spürte, wie die beiden Narben heiß aufflammten, so wie in der Nacht, als sie ihr zugefügt worden waren.

„Scheiße." Nikolai stieß in einem langsamen Seufzer den Atem aus. „Was ist da mit dir passiert? Sind das Brandwunden? Himmel ... sind das etwa Brandzeichen?"

Renata schloss die Augen. Ein Teil von ihr wollte einfach nur zurückweichen und in den Bodenfliesen verschwinden, aber sie zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben, den Rücken aufrecht. „Das ist nichts weiter."

„Blödsinn." Er stellte sich vor sie hin und hob ihr Kinn. Sie ließ den Blick nach oben wandern, um ihm in die Augen zu sehen, und fand seine blassen Augen scharf vor Intensität.

In diesen Augen lag kein Mitleid, nur kalte Empörung, die sie erschreckte. „Sag's mir. Wer hat dir das angetan - Jakut?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Nur einer seiner kreativeren Einfälle, um mich daran zu erinnern, dass es keine gute Idee war, ihn zu verärgern."

„Dieser Dreckskerl", schäumte Nikolai. „Der hat seinen Tod verdient. Allein schon für das hier - für alles, was er dir angetan hat - hat der Mistkerl es mehr als verdient."

Renata blinzelte, überrascht, so viel Wut zu hören, solch wildes Mitgefühl. Und das, obwohl Nikolai ein Stammesvampir war, und sie, wie man ihr in den letzten zwei Jahren nur allzu oft klargemacht hatte, nur ein Mensch.

Der nur existierte, weil er nützlich war. „Du bist gar nicht wie er", murmelte sie. „Ich dachte, du wärst es, aber du bist überhaupt nicht wie er oder Lex oder die anderen. Du bist ... ich weiß nicht ... anders."

„Anders?" Obwohl die Intensität seiner Augen nicht nachgelassen hatte, zuckten Nikolais Mundwinkel. „War das so etwas wie ein Kompliment oder redest du im Fieber?"

Obwohl sie sich elend fühlte, lächelte sie. „Beides, glaube ich."

„Nun, mit anders  komme ich klar. Kühlen wir dich ab, bevor du anfängst, mit diesem Wort mit N um dich zu werfen."

„Mit dem Wort mit N?", fragte sie und sah ihm zu, wie er die Flasche mit der flüssigen Handseife vom Waschbecken nahm und etwas davon ins einlaufende Badewasser spritzte.

„Nett", sagte er und warf ihr über seine mächtige Schulter einen ironischen Blick zu.

„Nett ist dir unangenehm?"

„Das war noch nie meine Spezialität."

Er grinste schief, und auf beiden Seiten seiner schmalen Wangen bildeten sich äußerst charmante Grübchen. Wenn sie ihn so ansah, fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass er ein Mann mit zahlreichen Qualitäten war - und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Kugeln und Klingen. Sie wusste aus erster Hand, dass er einen sehr netten Mund hatte, mit dem er allerhand anstellen konnte. So sehr sie es auch verdrängen wollte, ein Teil von ihr brannte immer noch von ihrem Kuss neulich in dem Schuppen, und die Hitze, die sie spürte, hatte nichts mit ihrem Fieber zu tun.

„Zieh dich aus", sagte Nikolai zu ihr, und eine verwirrte Sekunde lang fragte sie sich, ob er Gedanken lesen konnte.

Er fuhr mit der Hand durch das Badewasser, dann schüttelte er die Tropfen von den Fingern. „Fühlt sich in etwa richtig an. Los, rein mit dir."

Renata sah ihm zu, wie er die Flüssigseife wieder auf dem Waschbecken abstellte und begann, das Schränkchen darunter zu durchsuchen, und einen Waschlappen und ein großes zusammengelegtes Badetuch herausnahm. Während er ihr den Rücken zukehrte und damit beschäftigt war, den Waschbeutel nach Seife und Shampoo zu durchsuchen, schlüpfte Renata rasch aus Büstenhalter und Höschen und stieg in die Wanne.

Das kühle Wasser war ein Segen. Mit einem Seufzer sank sie ganz hinein, ihr erschöpfter Körper beruhigte sich sofort.

Als sie sich vorsichtig zurechtsetzte und bis zu den Brüsten im Seifenschaum verschwand, hielt Nikolai den Waschlappen im Waschbecken unters kalte Wasser.

Er faltete ihn zusammen und drückte ihn ihr vorsichtig gegen die Stirn. „Fühlt sich das gut an?"

Sie nickte, schloss die Augen, als er die Kompresse gegen ihre Stirn drückte. Der Drang, sich zurückzulehnen, war verlockend, aber als sie es versuchte, drückte der Wannenrand kurz gegen ihre Schulter. Sie zuckte zurück und stöhnte vor Schmerz.

„Hier", sagte Nikolai, legte ihr die Handfläche seiner freien Hand mitten auf den Rücken. „Entspann dich. Ich halte dich."

Langsam verlagerte Renata ihr Gewicht auf seine starke Hand. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sich zum letzten Mal jemand so um sie gekümmert hatte. Nicht so.

Gott, hatte sie das überhaupt schon einmal erlebt? Ihre Augen schlossen sich langsam in stummer Dankbarkeit. Mit Nikolais starken Händen auf ihrem müden Körper breitete sich ein seltsames, völlig ungekanntes Gefühl von Sicherheit in ihr aus, so tröstlich wie eine warme Decke.

„Besser?", fragte er.

„Mhm. Ganz nett", sagte sie, öffnete dann ein Auge einen Spalt und sah zu ihm auf. „Das Wort mit N. Tut mir leid."

Grunzend nahm er ihr die kalte Kompresse von der Stirn.

Er sah sie mit einem Ernst an, der ihr Herz ein wenig schneller schlagen ließ. „Willst du mir von diesen Narben auf deinem Rücken erzählen?"

„Nein." Renatas Atem verkrampfte sich bei dem Gedanken, ihm gegenüber noch mehr von sich preiszugeben, als sie es schon getan hatte. Dazu war sie nicht bereit. Nicht mit ihm, nicht so. Es war eine Demütigung, an die auch nur zu denken sie nicht ertragen konnte, geschweige denn, sie in Worte zu fassen.

Er sagte nichts, um die Stille zu durchbrechen, die sich zwischen ihnen ausbreitete. Er tauchte den Waschlappen ins Wasser und ließ etwas von dem seifigen Badewasser auf ihre unverletzte Schulter fließen. Kühle Rinnsale flossen über sie und strömten über die Rundung ihrer Brüste und ihren Arm hinunter. Nikolai tupfte ihr Hals und Brustbein ab, dann nahm er sich vorsichtig ihre Wunde vor.

„Geht es so?", fragte er, seine Stimme ein tiefes Vibrieren.

Renata nickte, unfähig zu sprechen, seine Berührung fühlte sich so sanft und willkommen an. Sie ließ sich von ihm waschen, und ihr Blick wanderte über das wunderschöne farbige Muster auf seinem nackten Oberkörper und Armen. Seine Dermaglyphen  waren nicht so zahlreich oder so eng verwoben wie die von Jakut. Nikolais Stammesmale waren kunstvoll verflochtene Bogen, Schnörkel und flammenähnliche Formen, die über seine glatte, goldene Haut tanzten.

Neugierig und bevor sie erkannte, was sie da tat, streckte Renata eine Hand aus und zeichnete eine der Linien mit dem Finger nach, die sich seinen mächtigen Bizeps hinunterschlängelte.

Sie hörte, wie er leise Atem holte, das plötzliche Innehalten seiner Lungen, als ihre Finger leicht über seine Haut wanderten, und sein tiefes, grollendes Knurren.

Als er sie ansah, hatte er seine Augenbrauen tief über die Augen gesenkt. Seine Pupillen zogen sich abrupt zusammen, und im Blau seiner Iriskreise begannen bernsteinfarbene Funken zu tanzen. Renata zog die Hand zurück, eine Entschuldigung lag ihr auf der Zunge.

Sie bekam die Chance nicht, auch nur ein Wort zu sagen.

Mit einer Bewegung, die schneller war, als ihre Augen wahrnehmen konnten, und mit der fließenden Grazie eines Raubtiers überbrückte Nikolai die wenigen Zentimeter Raum, die zwischen ihnen lagen. Im nächsten Augenblick streifte sein Mund sanft ihre Lippen. Seine Lippen waren so weich, so warm und schmeichelnd. Alles, was nötig war, war ein verlockender Zungenstoß an ihrem Mundwinkel, und Renata ließ ihn begierig, hungrig ein.

Sie spürte, wie eine neue Hitze in ihr aufloderte, etwas, das stärker war als der Schmerz ihrer Wunde, der unter der Lust von Nikolais Kuss zur Bedeutungslosigkeit verblasste.

Er hob die Hand hinter ihr aus dem Wasser und hielt sie in einer vorsichtigen Umarmung, sein Mund wich nicht von ihrem.

Renata zerschmolz an ihm, zu matt, um an all die Gründe zu denken, warum es ein Fehler war, das hier noch weiter zuzulassen. Sie wollte, dass es weiterging - wollte es so sehr, dass sie zitterte. Sie spürte nichts anderes mehr als Nikolais starke Hände, die sie streichelten, hörte nichts mehr als das Hämmern ihrer beiden Herzen, die im gleichen schweren Rhythmus schlugen. Sie schmeckte nichts anderes mehr außer der Hitze seines verführerischen Mundes, der sie beanspruchte ... und wusste nur noch, dass sie mehr wollte.

Jemand klopfte von außen an die Wohnungstür.

Nikolai knurrte an ihrem Mund und zog sieh zurück. „Da ist jemand an der Tür."

„Das wird Jack sein", sagte Renata atemlos, ihr Puls raste immer noch. „Ich werde mal gehen und schauen, was er will."

Sie machte eine unvorsichtige Bewegung, um aus der Wanne zu steigen, und spürte, wie der Schmerz in ihrer Schulter aufflammte.

„Den Teufel wirst du", sagte Nikolai zu ihr und stand bereits auf „Du bleibst hier liegen. Ich kümmere mich schon um Jack."

Nikolai war ein großer Mann, aber jetzt, da seine hellen, blauen Augen in tiefem Bernsteingelb funkelten und seine Dermaglyphen  auf Oberkörper und Armen farbig pulsierten, erschien er ihr wirklich riesig. Auch anderswo war er offenbar gut bestückt, eine Tatsache, die seine weite Nylonhose kaum verbergen konnte.

Als wieder ein Klopfen ertönte, fluchte er, die Spitzen seiner Fangzähne glänzten. „Weiß irgendwer außer Jack, dass wir hier sind?"

Renata schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn gebeten, niemandem etwas zu sagen. Wir können ihm vertrauen."

„Ich schätze, jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, um das herauszufinden, was?"

„Nikolai", sagte sie, als er das Hemd ergriff, das eben noch sie angehabt hatte, und in die langen Ärmel fuhr. „Was Jack angeht ... er ist ein guter Mann. Ein anständiger Mann. Ich will nicht, dass ihm was passiert."

Er schmunzelte. „Keine Sorge. Ich werde versuchen, nett zu sein."

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